Das ist Tragik: dass jemand etwas Schreckliches zu verhindern versucht, es aber gerade dadurch erst herbeiführt. Insofern ist die Rolle des unscheinbaren Schwimmtrainers Ulrich (Jonas Friedrich Leonhardi) in „Jenseits der blauen Grenze“ von Sarah Neumann die eines tragischen Helden. Er bringt seinem Schützling Hanna (Lena Urzendowsky) mit großem Engagement alles bei, was es braucht, um in der DDR zum nationalen Aushängeschild zu werden. Woher soll er wissen, dass er sie damit gleichzeitig in allen Fähigkeiten schult, die es braucht, um diese DDR zu verlassen: weit überdurchschnittliche Zähigkeit, Zielstrebigkeit und Ausdauer? Oder ahnt er es doch und wird als Ermöglicher zum wahren, stillen Helden?
Das wird Vati aufmuntern
Doch die Verfilmung des 2014 erschienenen Romans der Autorin Dorit Linke, der längst Schullektüre und als Theateradaption auf vielen Bühnen präsent ist, bleibt der Vorlage gemäß fast durchgehend bei der Protagonistin. Hanna und ihren besten Freund, Klassenkameraden und Nachbarn Andreas (Willi Geitmann) verbindet neben vielem der Umstand, schwierige Väter zu haben. Und das in Zeiten, in denen man über so etwas wie Alkoholsucht oder andere psychische Erkrankungen nicht redet. Diese Väter treten als bestimmend auf, noch bevor man sie gesehen hat. Ob er nicht auch langsam mal hereinkommen wolle zum Abendbrot, fragt Hanna ihren Freund im Innenhof. „Nee“, sagt Andreas, „mein Alter hat schlechte Laune.“ Kurz darauf berichtet Hanna ihrer Mutter (Pauline Knof), dass sie zur Spartakiade nach Leipzig darf. Die entgegnet darauf: „Das wird Vati aufmuntern.“ Der Vater (Bernhard Conrad), im Gegensatz zu Andreas’ gewalttätigem Vater ein lieber Kerl, verbringt nach einem psychischen Zusammenbruch die meiste Zeit im Bett und lässt sich von seiner Tochter gerne aus Büchern vorlesen.
Durch die bewegte Kamera von Nikolaus Schreiber entsteht eine fast klaustrophobische Subjektivität; immer wieder tastet sie ruhig und fast statisch die blassgraue Architektur der Plattenbauten und die kleinbürgerliche Enge der Interieurs ab. Sie bleibt auch ganz nah an Hannas offenem, ausdrucksstarkem Gesicht, das sich so inniglich und ungeschützt freuen kann wie nur wenige im deutschen Kino. Mit einem Wimpernschlag kann Lena Urzendowsky diese Freude verschatten und in sich begraben, sodass man nicht wegsehen, nichts verpassen möchte. Eine große Kraft geht von ihrer Figur der Hanna aus, und zugleich eine nur auf den ersten Blick mit Lieblichkeit zu verwechselnde Sanftheit. Wenn es jemand schaffen könnte, über die Ostsee in den Westen zu schwimmen, dann wohl eine wie sie. In der Realität zwischen 1961 und 1989 versuchten etwas mehr als fünfeinhalbtausend Menschen die Flucht über die Ostsee. 913 schafften es. Mindestens 174 starben.
Bis aufs leise Glucksen des Wassers
Der Film beginnt im Dunkeln. Tief ins Gras gedrückt sieht man die Gesichter von Hanna und Andreas unter dem pulsierenden Lichtkegel der Grenzposten. Auf ein leises Zeichen hin stürzen sie sich in ihren Neoprenanzügen ins kalte Wasser der Ostsee. Nicht ins Blaue hinein, sondern ins Tiefschwarze. 50 Kilometer sind es bis in den Westen und bis ans Ende des Films. Die Szenen im Meer, zu denen der Film in einem langsam sich steigernden Rhythmus zurückkehrt, werden von Mal zu Mal intensiver, länger, existenzieller. Sie bleiben dabei unaufgeregt naturalistisch, ohne dramatisierende Musik. Mal peitscht ein Wolkenbruch über die Körper hinweg, mal drohen Nacht und Wellen sie zu verschlingen. Dann wieder ist alles still, bis aufs leise Glucksen des Wassers.
Von diesem mentalen wie körperlichen Gewaltakt aus blendet die Inszenierung immer wieder zu den Geschehnissen zurück, die zum Fluchtversuch führten, bis am Ende die beiden Zeitebenen zusammenlaufen. Die Montage von Elena Schmidt findet dabei immer wieder Motive, die beide Ebenen verknüpfen und dadurch Nöte oder Hoffnungen offenbaren, seien es ermutigende Sätze des Schwimmlehrers oder banale Umstände wie Harndrang: ob man nun auf offener See und im nasskalten Neoprenanzug den schmerzhaften Druck auf die Blase nutzt, um wach zu bleiben, oder in jugendlicher Lust an der Provokation buchstäblich auf etwas pisst.
Manche kommen klar, andere nicht
Auf verbotenen Hausdächern und zwischen alten Güterwaggons entsteht eine neue Freundschaft, als der mit Indianer-Lederjacke und sächsischem Dialekt sofort zum Außenseiter gestempelte Jensi (Jannis Veihelmann) neu in die Klasse kommt. Immer wieder umschifft die Regisseurin allzu eindimensionale Darstellungen, gerade in den Nebenfiguren. Es braucht ja nicht viel, um Verdacht zu erregen oder andere einzuschüchtern; es genügen Andeutungen. Auch Lehrkräfte sind nicht davor gefeit, sich aus Versehen mal vom jugendlichen Übermut anstecken zu lassen, auch wenn sie dann sofort zurückgepfiffen werden. Jeder, der bleibt, macht mehr oder weniger mit, windet sich mehr oder weniger offensichtlich. Manche kommen damit klar, ihre Freunde zu verraten, andere nicht.
Das Thema Zwangsdoping wird eher beiläufig und nicht skandalisierend miterzählt: als die nicht verstandene Nebensache, die es für eine junge Sportlerin gewesen sein mag. „Es fällt mir plötzlich so leicht!“, staunt Hanna einmal nach einem Medaillensieg, wundert sich aber auch über diffuses Unwohlsein, als gehöre der eigene Körper nicht so richtig zu ihr. Noch geflutet von der Euphorie über einen Erfolg, verliest sie eine mustergültige sozialistische Dankesrede. Heldenhaft ist das aus heutiger Sicht nicht. Doch Urzendowsky schafft es, ihre Figur weder zu diffamieren noch zu glorifizieren: indem sie die Euphorie direkt aus dem Überwinden der eigenen Leistungsgrenzen erwachsen lässt, eine Begeisterung, die glaubhaft unempfindlich gegen Schmerz macht, sogar gegen den der verletzten eigenen Überzeugungen.
Wie man sich freischwimmt
Woher soll Hanna auch wissen, welche Medikamente der Mannschaftsarzt ihr da verabreicht? „Sagt einem ja keiner was!“ Dieser Satz zieht sich wie ein Leitmotiv durch die beiden gegenläufigen Erzählströmungen. Sagt einem ja keiner, in welchem „Jugendwerkhof“ der beste Freund interniert ist; sagt einem ja keiner, wem man vertrauen kann. Das Lächerliche dieses Angstklimas gipfelt im Straftatbestand West-Lakritzschneckenkonsum. Man braucht einen eigenen Kompass.
„Jenseits der blauen Grenze“ erfindet das Spielfilmgenre der DDR-Aufarbeitung nicht neu. Doch in seiner unprätentiösen, strengen Bauweise und vor allem durch die starke Protagonistin inszeniert Sarah Neumann einen Film über eingeengte, gekaperte Wahrnehmung und den Versuch, sich davon unter Einsatz des Lebens buchstäblich freizuschwimmen. Die Spaltung eines Landes in diejenigen, die bleiben, und diejenigen, die gehen und vielleicht untergehen, bringt eine kurze Frage des Schwimmlehrers auf den Punkt: „Ist es wirklich so schlimm?“ Worauf es für Menschen wie Hanna nur eine einfache Antwort geben kann.